Ideen für mehr Nachwuchs
Bis 2036 fallen knapp 30 Prozent der aktuellen Erwerbstätigen weg, weil die so genannte Babyboomergeneration in Rente geht. Fast 13 Millionen Menschen fehlen dann dem Arbeitsmarkt. Eine Lücke, die die junge Generation nicht schließen kann, denn die 15- bis 24-Jährigen stellen gerade mal 8,4 Millionen Erwerbstätige. Und von denen wollen viele nicht einen Beruf des (Fleischer-)Handwerks erlernen, sondern Abitur machen und studieren. Die Suche nach geeignetem Nachwuchs bleibt also schwierig. Mit dem Wettbewerb „Fit für Azubis“ würdigt die Gilde Stiftung deshalb die besten Ideen, junge Menschen für die Betriebe und das Berufsfeld zu begeistern. Wir berichten, wie sich die vier Gewinner des Wettbewerbes 2022 der Herausforderung stellen.
Boni für gute Noten
Gute schulische Leistungen finanziell zu honorieren, ist für Andreas Tonn wichtig. Er führt als Metzgermeister den 1956 gegründeten Familienbetrieb, hat ihn aber 2019 komplett überarbeitet: modernes Ladengeschäft, kerniger Unternehmensauftritt mit neuem Logo und neue Recruitingkampagne. Seine Azubis erhalten seither eine ordentliche Finanzspritze, wenn die Berufsschulnoten stimmen: 25 Prozent mehr Lohn im ersten Lehrjahr, 50 Prozent im zweiten und doppelt so viel im dritten. Auf die gesamte Lehrzeit umgerechnet, kommen rund 15.000 Euro Bonus zusammen. „Wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte und die können wir nicht mit einem mageren Gehalt abspeisen“, so seine Devise. Was seinen Betrieb noch von anderen unterscheidet, kommuniziert er über einen Flyer im schwarzen Steakhouse-Design. Für den Erstkontakt reicht eine Whatsapp, ein Anruf oder ein Besuch im Laden. Dagegen spielt Printwerbung bei Sebastian Winterhalter nur eine untergeordnete Rolle.
Er ist Juniorchef in einem Familienbetrieb, der seine Produkte in elf Filialen vertreibt. „Die größte Anzeige bringt nichts, wenn die Jugendlichen keine Zeitung mehr lesen. Wenn ich nicht auf ihren Plattformen aktiv bin, bin ich für sie unsichtbar.“
Ab in die sozialen Medien
Der Großteil seiner Recruitingaktivitäten spielt sich deswegen bei Facebook und Instagram ab, aber auch bei Ebay-Kleinanzeigen und auf seiner Homepage. Mit den knackigen Slogans „100 Gramm statt Instagram“ und „Kuh-Tatar statt Youtube- Star“ spielt er mit dem Zeitgeist und ermutigt mit einem Augenzwinkern zu einer Ausbildung als „Food Artist“ oder „Health Influencer“. Die Kommunikation auf Augenhöhe ist wichtig, weshalb er bei den Ausbildungsmessen immer seine Azubis dabei hat. „Ich bin zwar selbst erst 30, aber für den Nachwuchs ein alter Mann. Untereinander begegnen sie sich völlig anders“, weiß er. Im ersten Jahr der Kampagne gewann die Metzgerei gleich fünf Azubis. 2022 ergab sich keine Neueinstellung, auch weil coronabedingt die Möglichkeiten für Praktika und persönliches Kennenlernen reduziert waren.
Azubis am Messestand
In der Fleischerinnung Marburg hat das Thema Nachwuchsgewinnung eine lange Tradition. Seit Martin Meier Obermeister wurde, erhöhte er nochmals die Priorität. „Mir liegt die Nachwuchsgewinnung besonders am Herzen, weil ich das als eine zentrale Herausforderung unserer Zeit sehe.“ Seitdem präsentiert sich die Innung stärker nach außen und erhielt die Auszeichnung der Gilde Stiftung deshalb nicht für eine einzelne Maßnahme, sondern für ihr Gesamtpaket. Entscheidend war die Plakatkampagne mit kreativen Slogans, wie zum Beispiel: „Damit kommen Sie an jedem Türsteher vorbei“. Gemeint damit sind die abgebildeten, handwerklich hergestellte Cateringprodukte.
Zu den erfolgreichen Maßnahmen zählt auch eine zweitägige Präsenz auf der Aktionswoche Handwerk. Dort waren sogar noch zwei Teilnehmer der Fleischer- Nationalmannschaft dabei. „Die beiden haben die Berufe des Fleischerhandwerks engagiert, voller Begeisterung und auf Augenhöhe präsentiert“, so Meier. Wichtig ist ihm, die Vielseitigkeit des Berufs und die späteren Chancen zu zeigen – aber auch die Angst vor einer Fehlentscheidung zu nehmen. „Die Wahl für einen Beruf muss heute keine lebenslange Entscheidung mehr sein, sondern vielleicht nur für zwei, fünf oder zehn Jahre. Eine abgeschlossene Berufsausbildung ist aber eine Basis für viele andere Tätigkeiten, und die hat ein fleißiger Azubi im Fleischerhandwerk nach zwei Jahren in der Tasche.“
Joachim Lederer, Obermeister der Innung Lörrach-Waldshut, geht einen ganz anderen Weg. „Wo auf der Welt gibt es einen Überschuss an jungen Leuten, die Lust hätten, in Deutschland zu arbeiten“, fragte er sich. Er kam auf Indien. Nach zwei Jahren kamen im September 2022 13 junge Inder in Frankfurt an. Wie sie hierzulande das Fleischerhandwerk voranbringen, lesen Sie im Folgenden.
Weshalb die Innung Lörrach-Waldshut in Indien rekrutiert
Deutschland hat ein Problem: Bis 2036 fallen knapp 30 Prozent der aktuellen Erwerbstätigen weg, weil die so genannte Babyboomer-Generation in Rente geht. Fast 13 Millionen Menschen fehlen dann dem Arbeitsmarkt. Eine Lücke, die die junge Generation nicht schließen kann, denn die 15- bis 24-Jährigen stellen gerade mal 8,4 Millionen Erwerbstätige. Und von denen wollen viele nicht einen Beruf des Fleischerhandwerks erlernen, sondern Abitur machen und studieren. Joachim Lederer geht diese Problemstellung deshalb bewusst anders an. „Wo auf der Welt gibt es einen Überschuss an jungen Leuten, die Lust hätten, in Deutschland zu arbeiten“, fragte er sich.
Fachkräfte aus dem Ausland
Der Obermeister der Innung Lörrach-Waldshut beschäftigt sich schon lange mit der Nachwuchsfrage und sammelte in diesem Zusammenhang schon einige Erfahrung mit jungen Leuten aus anderen Ländern. Seinen Nachfolger, der bald die Meisterschule besucht, holte er vor einigen Jahren persönlich in Italien ab. „Wir sind hier im Grenzgebiet zu Frankreich und der Schweiz, einer ländlichen Region, aus der die jungen Leute eher wegziehen. Als Deutschland im März 2020 den Arbeitsmarkt für Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten öffnete, sind wir deshalb sofort aktiv geworden.“ Die Recherche brachte Indien hervor, wo 1,2 Millionen junge Menschen dringend auf der Suche nach einem Job sind und offen dafür, ihre Heimat zu verlassen. Zusammen mit der Handwerkskammer Freiburg nahm das gemeinsame Pilotprojekt dann schnell an Fahrt auf.
So läuft das Recruiting in Indien
Für die Umsetzung vor Ort hat Lederer Unterstützung: Die indische Personalagentur „Magic Billion“ kümmert sich um das Recruiting, das Goethe-Institut in Neu-Delhi nimmt die Deutschprüfungen ab. Denn die Sprache ist eine Hürde: Das geforderte B1-Niveau schaffen nur 13 der 26 Bewerber, die nach Onlinecastings in die engere Auswahl kommen. In der Ausbildung vielleicht auch eine Kuh schlachten zu müssen, ist für sie hingegen keine Hürde, denn die meisten Bewerber sind katholisch. Und dann geht es Schlag auf Schlag: Während die Frauen und Männer ihre Koffer packten, organisierten die fünf Ausbildungsbetriebe eine Unterkunft. Im September 2022 landeten alle in Frankfurt.
Der Erfolg gibt ihm recht
Ein halbes Jahr später sind die ersten Klausuren geschrieben: „Ihre Leistungen sind hervorragend. Zwölf Jahre Schulausbildung zahlen sich aus, ebenso wie die Tatsache, dass sie die Vermittlungsgebühren an Magic Billion und den Sprachkurs selbst zahlen mussten“, sagt Joachim Lederer. Die Ausbildungsbetriebe tragen einen Teil davon und übernahmen zudem die Reisekosten. Dabei legt Joachim Lederer Wert darauf, dass er nicht auf die Suche nach billigen Arbeitskräften geht, sondern künftige Fachkräfte und Meister ausbilden möchte. Deshalb investiert er das Preisgeld wieder in seine „Kinder“ und ermöglicht ihnen mit Ausflügen wie zur Fachmesse Süffa in Stuttgart, über den Tellerrand hinauszublicken. Bis 2027 hofft Lederer auf bis zu 150 neue Leute für die Region – und viele Nachahmer für das Projekt aus anderen Branchen.
Ein auszeichnungswürdiges Engagement, befand die Jury der Gilde Stiftung – und prämiierte Lederers Einsatz mit dem Sieg im Wettbewerb „Fit für Azubis“.
Text: Inka R. Stonjek